Starten wir mit der Hexe: Vermutlich stammt das Wort „Hexe“ aus der Zusammensetzung zwischen Hag (Umzäunung, Hecke, Zaun) und Zussa (Geist, Elfe, Dämon, Sitzerin, Reiterin). Die Hexe ist somit eine Zaunreiterin / ein Heckengeist. Die Hecke ist die Grenze zwischen dem Wohnbereich und dem Außen. Nebenbei: Unsere Vorfahren hatten um ihre Höfe gerne Dornenhecken, da kam so leicht niemand durch. Ursprünglich war die Hagazussa sowohl eine Frau als auch ein Geist / magisches Wesen, die Dise zusätzlich eine Göttin. Die Hagedise ist also die Göttin, der weibliche Geist oder die Herrin der Umzäunung. Einige Theorien sehen hier eher eine schamanisch-magisch Wirkende. Der „Hag“ ist die Grenze zwischen dem Alltäglichen und der Anderswelt, die Hexe jene, die in beiden Welten zuhause ist.

Bis zum Beginn der Hexenverfolgung im 15. Jahrhundert (also am Ende des Mittelalters) glaubten die Menschen, dass Hexen (w/m/d) sowohl zum Wohle als auch zum Schaden wirken könnten. Danach lehrte man ihnen das Fürchten mit der Vorstellung Hexen seien mit dem Teufel verbunden und hätten es auf die herrschende Ordnung und Religion abgesehen.

Sicher habt ihr, die ihr euch auch für Geschichte interessiert, bereits von Seherinnen gehört. Der Römer Tacitus erwähnt z.B. Veleda aus dem Stamm der Brukterer oder Albruna, deren Name so viel wie „die mit dem (Geheim-)Wissen der Alben“ bedeutet. Er erzählt von Divination mittels Stäbe, womit er Runen gemeint haben dürfte. In der Edda, die im Hochmittelalter von Snorri Sturluson niedergeschrieben wurde, finden wir die Völuspá (altnordisch: Völva = Stabträgerin): Das Lied der Seherin. Die Griechen hatten Kassandra und ihr Orakel von Delphi. In der Neuzeit haben wir die Französin Marie-Anne Lenormand (1772-1843) oder Baba Wanga (1911-1996). Nicht zuletzt war auch die Schamanin von Bad Dürrenberg, über die der Archäologe Harald Meller zusammen mit Kai Michel in dem Buch „Das Rätsel der Schamanin“ berichten, eine Seherin.

Doch wie genau definiert sich eine Seherin? Kurz gefasst: Eine Seherin kennt verschiedene Methoden zum Weissagen, in die Zukunft zu schauen oder Hinweise für die Lösung eines Problems zu geben. Das kann mittels Knochen, Runen, Karten, Vogelflug und anderem sein. Aber auch durch Trance, bei der sich die Seherin mit der geistigen Welt verbindet / die Geister um Antworten bittet. Sie nimmt sich selbst dabei zurück und öffnet sich für die Wahrnehmung. Die Trance kann durch Trommelschläge, Tanz oder Gesang/Mantra tönen herbeigeführt werden (Substanzen jedwelcher Art sind böse, nicht hilfreich). Hierbei vereint sich sehr tiefe Entspannung mit hoher Konzentration auf das Ziel / die Frage bzw. Antwort. Die Stammesfürsten waren klug genug, auf die Seherinnen zu hören.

Kommen wir zur Schamanin: Na, wer denkt jetzt nur an die Urbevölkerung ganz weit im Westen oder Osten? Erwischt. Schamanismus ist auch heute und auch hier in Europa lebendig. Es ist die älteste Heilmethode im Einklang mit der Natur, physisch wie geistig. Die Schamanin oder der Schamane ist in der körperlichen und der geistigen Welt zuhause. Ein anderes Wort für Schamanismus ist Zaunreiten, denn der Zaun grenzt das Hier und Jetzt vom Andersweltlichen ab. Um diese Grenze zu überschreiten, braucht es die Trance. Durch Trommeln, monotonen Gesang, Tanz u. ä. kann dieser Zustand erreicht werden, der von der Hirnfrequenz her dem gleicht, was wir ganz kurz vor dem Einschlafen durchlaufen. Auf diesen Trancereisen kann die Schamanin ihre geistigen Verbündeten um Hilfe oder Rat bitten, verlorengegangene Seelenanteile zurückholen und anders mehr. Doch das ist nur ein Teil dessen, was zu dem Können und den Aufgaben einer Schamanin gehört.

Historisch belegt sind Seherinnen nicht nur aus der Antike (z.B. Cäsar, Tacitus), sondern auch für spätere Zeiten. Dort, wo 772 der Frankenkönig Karl die Irminsul zerstören ließ, wachte eine Priesterschaft, über die ich in meinem Roman „Der Stab der Seherin“ berichte. Verdrängt und verboten durch das Christentum, mussten jene, die mittels Trance in die geistige Welt eintauchen konnten, im Verborgenen wirken. Einzig anerkannte Prophetinnen wurden geduldet, z.B. Hildegard von Bingen oder Johanna von Orlean.

Die Hauptfigur meines 2024 erschienenen Romans ist eine Wala, eine Schamanin, wie die berühmte Schamanin von Bad Dürrenberg. Nein, das hat absolut nichts mit Teufelsanbetung und ähnlichem zu tun. Schamanismus ist eine uralte Naturreligion (leben im Einklang mit der Natur) und wird weltweit praktiziert mit dem Grundsatz: Alles ist beseelt. Also nicht nur Tiere und Menschen, sondern auch Pflanzen, Orte, Dinge. Das führt (sollte es zumindest) zu einem respektvollen Umgang mit allem, was ist. Die meisten denken bei dem Thema an die Seelenreise / den Seelenflug in Trance: Vollkommene Konzentration bei sehr tiefer Entspannung. Überschreiten Schamaninnen / Schamanen / schamanisch Praktizierende die Grenze zwischen Alltags- und geistiger Welt, wirken sie für sich und (nach Absprache) andere zum Wohle: geistige Heilung, Hausreinigung, Divination, Extraktion, Seelenteilrückholung… Der enge Kontakt zur Natur verbindet so viel tiefer mit der Umwelt. Unrat in die Natur werfen beispielsweise, ist daher absolut undenkbar.